Ein BILD-Reporter erzählt, was er zu Missbrauchsfällen in der Kirche weiß: „Im Waisenhaus sah ich, was Kindern angetan wurde“

Missbrauch unterm Kreuz (Symbolbild)

Missbrauch unterm Kreuz (Symbolbild)

Foto: Uwe Zucchi / dpa
Von: Carli Underberg

Wenn Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und deren Vertuschung bekannt werden, dann kommen die Bilder wieder in meinen Kopf.

Dann bin ich wieder im Waisenheim in Bolivien, wo ich nach dem Abi Zivildienst im Ausland gemacht habe. Und wo ich selbst erlebt habe, wie die Kirche, die auch mal meine war, mit diesen Fällen umgeht.

Noch heute, 16 Jahre später, spüre ich dann die Wut.

Ich wurde katholisch erzogen, besuchte katholische Schulen, war Messdiener. Es war naheliegend, sich für eine katholische Einrichtung zu engagieren. Und so reiste ich 2002 zum Waisenhaus in der Region Santa Cruz, gegründet vom Salesianer-Orden, finanziert von der Kirche und Spenden. Rund 150 Straßenjungen zwischen fünf und 17 Jahren fanden hier ein Zuhause.

Sie konnten zur Schule gehen, bekamen drei Mahlzeiten am Tag. Ein Ort, an dem Kinder eine Perspektive bekommen und beschützt werden, dachte ich. Ständig bekamen die Jungen zu hören: „Gott sieht alles.“

Oder: „Gott bestraft dich.“

Doch bei Taten, die dem Ansehen der Kirche schaden könnten, schloss Gott offenbar seine Augen. Eines Morgens entdeckte ich den achtjährigen Santos im Schlafraum, die Augen voller Tränen, Wut und Scham, in der Unterhose Blut. Was genau ihm widerfahren war, darüber schwieg er. Die anderen Kinder vertrauten mir an, dass nachts immer wieder ältere Heimbewohner zu ihnen kamen.

Mit der Unterhose als Beweis in der Hand lief ich zum „Padre“, er war die höchste Instanz im Waisenhaus. Er würde die Kinder schützen, so glaubte ich. Ich irrte. Seine Reaktion: „So etwas gibt es bei uns nicht!“

Und der Kirchenmann setzte mich unter Druck: Würde der Fall bekannt, würden Spenden ausbleiben, das Heim geschlossen.

Aus Sorge, die Kinder würden auf der Straße landen, fügte ich mich. Damit hadere ich bis heute. Die Wut, die ich heute noch spüre, gilt auch mir selbst. Bis zum Ende meiner Dienstzeit schliefen ich oder ein anderer Erzieher bei den Jüngeren im Schlafsaal, um sie zu bewachen. Nach meiner Heimkehr begann ich, die Strukturen der katholischen Kirche zu hinterfragen – und kehrte ihr schließlich ganz den Rücken. Das war ein jahrelanger Prozess, in dem ich mich immer mehr von der Kirche und ihren Dogmen entfernte.Heute respektiere ich sie als Ort für Gläubige.

Aber zu der Institution, ihrer Politik und deren Strukturen möchte ich nicht mehr gehören.

Chronologie des Versagens: Ein Skandal mit offenem Ende

▶︎ 1994: Die irische Regierung stürzt über den Fall eines pädophilen Priesters.

▶︎ 1999: Irlands Regierung entschuldigt sich bei Opfern von Kindesmisshandlungen.

▶︎ 2002: Missbrauchsfälle in Boston werden öffentlich. Die katholischen Orden in Irland wollen Opfer sexuellen Missbrauchs entschädigen.

▶︎ 2008: In den USA trifft Benedikt XVI. mit Missbrauchsopfern zusammen.

▶︎ 2009: Bei den „Legionäre Christi“ wird ein System von Lügen und Missbrauch des Gründers Marcial Maciel Degollado bekannt.

▶︎ 2010: Jesuitenpater Klaus Mertes macht Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich.

▶︎ 2011: In Deutschland trifft Benedikt XVI. Missbrauchsopfer.

▶︎ Januar 2018: Franziskus‘ Besuch in Chile wird vom dortigen Missbrauchsskandal überschattet.

▶︎ Juni 2018: In Australien wird Erzbischof Philip Wilson wegen Vertuschung zu einer Haftstrafe verurteilt.

▶︎ Juni 2018: Dem früheren Washingtoner Kardinal Theodore McCarrick wird der Missbrauch von Seminaristen und Minderjährigen vorgeworfen.

▶︎ Mai 2018: In Melbourne beginnt das Verfahren gegen Kardinal Georg Pell.

▶︎ August 2018: Ex-Nuntius Carlo Maria Vigano fordert Rücktritt von Franziskus.

▶︎ 13. September 2018: Erste Zahlen aus der Missbrauchsstudie der Bischofskonferenz werden bekannt.

▶︎ 21. – 24. Februar 2019: Franziskus will die Chefs aller nationalen Bischofs-Konferenzen zu einem Krisengipfel im Vatikan einbestellen.

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